Volker Müller „Da war nichts los, aber ich wollte doch etwas erleben“

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„Lange Zeit wusste ich nicht, dass ich eine Familie habe“, sagt Volker Müller während er auf seinem Sessel in seinem Wohnzimmer sitzt. „Auf einmal standen an Weihnachten zwei alte Leute vor mir – das waren meine Oma und mein Opa, haben die Mitarbeiterinnen gesagt“, erinnert sich der heute 78-Jährige und zuckt mit den Schultern. Sein Vater habe seine Großeltern beauftragt, zu schauen, wie es ihm ging. Seine Kindheit verbachte der gebürtige Chemnitzer in Kinderheimen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

„Mein Vater war ein feiner Mann. Der hat mich gesucht und im Oktober 1958 auch rüber geholt.“ (Anmerk. d. Red. in die Bundesrepublik) Kurzzeitig lebte Volker Müller bei seinem Vater und seiner Mutter. Doch die wollte ihn nicht haben, wie er sagt. „Die hat mich immer rausgejagt, nix Warmes zu essen habe ich bekommen.“ Er kommt mit 13 Jahren wieder in ein Kinderheim, später veranlasst sein Vater die Aufnahme im Wittekindshof. Den Brief an die damalige Anstaltsleitung hat Volker Müller noch griffbereit. Detailliert beschreibt der Vater die Fähigkeiten und Stärken seines Sohnes – wie in einem Bewerbungsschreiben. „Er wollte, dass es mir gut geht."

Geschlossene Türen

1964 zieht er mit 19 Jahren in das Haus Bethanien nach Volmerdingsen. „Das gefiel mir da aber gar nicht“, sagt er und winkt mit der Hand harsch ab. „Das war wie ein Krankenhaus. Und die Türen waren immer zu.“ Wenige Monate später nutzte er seine Chance und zog nach Espelkamp-Benkhausen. „Da war nichts los, aber ich wollte doch etwas erleben.“ Zumindest sei die Arbeit gut gewesen. „Erst habe ich in der Gärtnerei gearbeitet, später in der Hauswirtschaft. Da habe ich gekocht und gewaschen. Das war mein Ding“, erinnert er sich. Viele Wohnbereiche folgten, später auch eine Wohngemeinschaft.

Heute lebt der 78-Jährige allein in seiner eigenen Wohnung mitten in Lübbecke. „Ich kann zu Fuß zum Arzt und einkaufen und die Mitarbeitenden kommen und helfen mir.“ Als 2017 die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ eingerichtet wurde, die Menschen unterstützt hat, die von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise von 1949 bis 1990 in der DDR als Kinder und Jugendliche in der stationären Behindertenhilfe oder psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben, war Volker Müller einer der ersten Klienten des Wittekindshofes, der einen Antrag stellte. Er erhielt dank der tatkräftigen Unterstützung seiner rechtlichen Betreuerin eine Anerkennung und entsprechende Geldzahlung. Insgesamt bekamen 530 Frauen und Männer, die vom Wittekindshof unterstützt wurden oder noch werden, eine solche Anerkennung.

Reise in die USA

Mit dem Geld konnte Volker Müller sich seinen großen Traum erfüllen: Er besuchte seinen älteren Bruder Lothar in Amerika. „Lothar kannte ich von zuhause. Wir haben mal telefoniert, aber Lothar ist beruflich viel umgezogen.“ Im August 2018 dann ist es soweit: Eine Mitarbeiterin begleitet Volker Müller ehrenamtlich. Wochen vorher fängt er an, Englisch mit ihr zu lernen. 14 Tage lang sind sie in der Nähe von Seattle. Lothar zeigt ihnen die Umgebung und sie lernen seine Freunde kennen. „Wir haben ein Reisetagebuch geführt.“

Zwei Mal war sein Bruder seit dieser großen Reise schon bei ihm in Deutschland zu Besuch. Derzeit telefonieren die Geschwister regelmäßig. „Jetzt möchte ich noch einmal hin, so lange es gesundheitlich noch geht.“

Volker Müller wird seit 1964 vom Wittekindshof unterstützt.