Maria Loheide „Wir brauchen neue Orte des Miteinanders, neue Formen und Formate der Gemeinschaft, in denen sich das ,Wir‘ neu finden.“

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Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß – für die Gesellschaft, die Kirchen und für die Diakonie. Deutschland wird kulturell, ethnisch und religiös immer vielfältiger und auch älter. Gleichzeitig erfordern die Folgen des globalen Klimawandels einen raschen ökologischen Wandel. Einen Wandel der im Einklang mit Lösungen der sozialen Frage einhergehen muss.

Die Digitalisierung aller Lebensbereiche schreitet voran und verändert Gemeinschaften, Arbeit, Beziehungen und den Alltag. Die Lebensqualität in den verschiedenen Regionen Deutschlands – in den Städten und auf dem Land – ändert sich schnell und rapide. Von gleichwertigen Lebensbedingungen und -chancen kann nicht mehr die Rede sein. Die Frage nach dem, was uns als Gesellschaft zusammenhält, wird immer dringlicher.

Parallele zur Industrialisierung

Dabei gibt es eine Parallele zur Industrialisierung in Westeuropa im 19. Jahrhundert: Das Vertrauen in die Elite ist gering. Die Menschen gehen auf die Straße. Vieles verändert sich in rasantem Tempo: Neue Technologien revolutionieren die Arbeitswelt, urbane Zentren wachsen, Zukunftsträume ziehen die Menschen in prosperierende Regionen, ländliche Gebiete veröden, Traditionen verschieben sich, soziale Rollen lösen sich auf. Die wachsende Armut stellt die Würde vieler Menschen in Frage. Und nur wenige der Wohlhabenden zeigen Interesse an einem sozialen Ausgleich. Steht eine soziale Katastrophe bevor? Ist es möglich, der Verarmung eine wirksame Grenze zu setzen? Und wenn ja, wer könnte das tun?

Das war in etwa die Situation in Deutschland, als der Lehrer und Theologe Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848 auf dem Evangelischen Kongress in Wittenberg sprach und den dort versammelten Geistlichen ein kollektives Versagen gegenüber der verarmten Bevölkerung vorwarf. Es gibt gesellschaftliche Herausforderungen, bei denen bloße Nächstenliebe nicht ausreicht, bei denen sich Nächstenliebe vernetzen muss, um wirksam zu sein.

Auch mit Partnern außerhalb der Kirche. Und in der Tat ist es nicht nur eine Aufgabe, sondern die zentrale Aufgabe der Kirche, diesem Netzwerk der „rettenden Liebe“ eine organisatorische Grundlage zu geben. Das war seine Botschaft und der Beginn der „Inneren Mission“, die Geburtsstunde der heutigen Diakonie. Deshalb feiern wir in diesem Jahr unser 175-jähriges Bestehen: #ausLiebe

Diakonie inspiriert

Der Weg, den die Väter und Mütter der Diakonie eingeschlagen haben, ist bis heute inspirierend: Sie haben sich ohne Verzagtheit den Herausforderungen ihrer Zeit gestellt, haben über den Tellerrand geschaut und die Zukunft nicht nur düster prognostiziert. Inspiriert haben sie neue Partner und Verbündete gesucht. Innovativ haben sie neue Formen und Formate des Hilfehandelns entwickelt.

So wie 1887 Pfarrer Hermann Krekeler aus Volmerdingsen, der Unterstützerinnen und Unterstützer suchte, um für Menschen mit Behinderung eine spezialisierte Einrichtung zu gründen. Er erhielt Zuwendungen und kaufte für 16.200 Goldmark einen Bauernhof in Volmerdingsen: den Beginn des heutigen Wittekindshofs. Die Geschichte der Diakonischen Stiftung Wittekindshof ist ganz beispielhaft für diese Gründungsphase. Und die Idee der „Inneren Mission“ ermöglichte es, diese lokalen diakonischen Initiativen zusammen mit den Gemeinden zu vernetzen. Dass daraus einer der größten Sozialverbände Deutschlands entstehen würde, konnten Wichern und seine Mitstreitenden nicht ahnen.

Politische Rahmenbedingungen

Auf dem langen Weg bis heute hat sich viel getan – nicht nur die Verbände, die Institutionen, die Einrichtungen der Diakonie, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen haben sich vielfach verändert. In den vergangenen 175 Jahren ist ein dichtes Netz unterstützender und begleitender sozialer Arbeit entstanden. Aber was können mögliche Antworten auf die genannten Herausforderungen sein? Wir müssen die Eingliederungshilfe und Pflege umgestalten und einen neuen Mix von Dienstleistungen für Menschen mit Einschränkungen, Erkrankungen und bei Pflegebedürftigkeit entwickeln.

Hier liegt ein Schlüssel zu einem neuen „Wir“ der Unterschiedlichen: In der gemeinsamen Sorge für das, was wir lieben, für die, die wir lieben – auch oder gerade dann, wenn sie Unterstützung benötigen. Wir setzen uns ein, für das Wohlergehen der Kinder und der Alten, für die Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen, für barrierefreie Zugänge und bezahlbaren Wohnraum und den naturnahen Garten um unsere Einrichtungen. Wir kümmern uns gemeinsam mit anderen um die Natur und das Klima. Das braucht kluge politische Entscheidungen, entsprechende Gesetze und gesicherte Finanzierung.

Nachhaltiges Handeln

Diakonie und Caritas selbst stehen in der Verantwortung, nachhaltig zu handeln. Schließlich sind soziale Akteure mit einem großen ökologischen Fußabdruck. Wir müssen diesen Fußabdruck aktiv reduzieren und uns auch in der Sozialwirtschaft für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Klimaschutz einsetzen. Das Gesundheits- und Sozialwesen kann einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.

Die Diakonie mit ihren vielen Trägern und Unternehmen ist ein „schlafender Riese“, wenn es um die Reduzierung von Kohlendioxid geht. Der Löwenanteil der CO2-Emissionen entfällt mit fast 50 Prozent auf die Gebäude. Aber auch die Mobilität, die Beschaffung etwa von Wäsche oder die Vermeidung von Lebensmittelabfällen leisten einen erheblichen Beitrag. In diesen Krisenzeiten brauchen wir einen Geist der Hoffnung – gegen Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst.

Dieser Geist der Hoffnung und der Unverzagtheit kommt am überzeugendsten zum Ausdruck, wenn wir unsere Verantwortung für Lieferketten, die nachhaltige Sanierung unserer Gebäude, neue Mobilitätskonzepte und eine faire Beschaffung wahrnehmen. Empathie Eine der großen Chancen liegt in einer Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie im Sozialraum, die sich an den Bedürfnissen und Potenzialen der Menschen in ihrem Lebensumfeld orientiert, die alle Menschen wahrnimmt, die zuhört und ihnen Raum gibt.

Und es braucht eine sehr persönliche Grundtugend: Empathie. Die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, die Fähigkeit sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen und sein Handeln daran auszurichten. Ein altes Wort dafür ist Nächstenliebe. Vor allen Dingen braucht es immer wieder Mut. Beispielhaft voran zu gehen, neue Wege zu beschreiten und damit zu leuchten. Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und mitzunehmen.

Das Konzept der „Caring Community“, der sorgenden Gemeinschaft setzt immer auch auf kluge Kooperation der Unterschiedlichen. Es braucht Gestaltung, es braucht Moderation, es braucht gemeinsame Projekte. Dafür brauchen wir neue Orte des Miteinanders, neue Formen und Formate der Gemeinschaft, in denen sich das „Wir“ neu finden und erleben kann. Wenn Diakonie und Kirche sich öffnen und einen großen Teil ihrer Kreativität in die Gestaltung dieses Transformationsprozesses fließen lassen, werden sie in Zukunft für das Miteinander im Land eine wichtige Rolle spielen können, #ausLiebe, 175 Jahre nach Wichern.

Maria Loheide ist Sozialpolitische Vorständin der Diakonie Deutschland