Wie inklusiv ist Mobilität in Deutschland?

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Mit einem extra Bulli geht es für Muharrem Saygün nach Berlin. Der 47-Jährige nutzt einen Elektro- Rollstuhl und ist Teil des inklusiven Projekts „ParStaR – partizipative Methoden für StadtGesundheit Ruhr“. Ziel des Projekts der Hochschule für Gesundheit in Bochum in Kooperation mit der Diakonischen Stiftung Wittekindshof ist es, Methoden für Kommunen zu entwickeln, um Menschen mit Beeinträchtigung bei der Stadtentwicklung besser einzubeziehen. Beim Kongress „Armut und Gesundheit“ in der Bundeshauptstadt sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Während seine Teamkolleginnen und -kollegen allerdings mit den öffentlichen Verkehrsmitteln reisen, ist das für Muharrem Saygün nicht möglich. Sein Rollstuhl passt nicht in den Zug.

„Die Fahrt nach Berlin war ein Projekt im Projekt. Um mit einer so großen, diversen Gruppe zu reisen, müssen vorher viele Dinge geklärt werden. Wir brauchten barrierefreie Hotels und Restaurants sowie barrierefreie Zugverbindungen, dazu 27 Sitzplatzreservierungen. Und wir mussten sicherstellen, dass im Zug genügend Platz für Mobilitätshilfen war“, sagt Julia Brüggemann rückblickend. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule und hat das Projekt von Beginn an begleitet. Für Muharrem Saygüns Rollstuhl war kein Platz, aber am Ende haben es alle nach Berlin geschafft. „Das ist die Hauptsache. Trotzdem wird einem gerade dadurch bewusster, wie viele Barrieren Menschen mit Beeinträchtigung im Alltag immer wieder überwinden müssen“, hat die studierte Sozialwissenschaftlerin im Projektjahr festgestellt.

Hoher Zeitaufwand für Wege

Wie barrierefrei ist Mobilität in Deutschland? Wie steht es um die Nutzung von Apps zur Reiseplanung, Navigation und zum Fahrkartenkauf? Und inwiefern wird die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung am Alltag dadurch ermöglicht oder eben verhindert? Diese Fragen stellt auch das „Inklusionsbarometer Mobilität 2022“ der Aktion Mensch. Den meisten Menschen sei nicht bewusst, wie viel Zeit, Geld und Energie Menschen mit Mobilitätseinschränkung aufwenden müssen, um von A nach B zu kommen, heißt es in der Studie. In der Folge seien Menschen mit Beeinträchtigung weniger gerne unterwegs und erfahren weniger soziale Teilhabe als Menschen ohne Beeinträchtigung.

Für die repräsentative Online-Befragung untersuchte die Aktion Mensch in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut Ipsos, einer Co-Forschenden-Gruppe sowie Mobilitäts- und Inklusions-Expertinnen und -Experten die Aussagen von 1000 Menschen mit und 500 ohne Beeinträchtigung. Das Ergebnis: Jeder vierte Mensch mit Beeinträchtigung empfinde den Zeitaufwand für Wege als zu hoch. 34 Prozent der Befragten mit Beeinträchtigung trauten es sich demnach manchmal nicht zu, selbstständig unterwegs zu sein. Zum Vergleich: Unter Befragten ohne Beeinträchtigung ist dieser Anteil mit 22 Prozent deutlich geringer. Menschen mit Beeinträchtigung machten im Schnitt häufiger negative Erfahrungen beim Unterwegssein, so das Inklusionsbarometer. Das treffe auf den Umgang mit Mitmenschen und anderen Fahrgästen ebenso zu wie auf die Kommunikation mit Service-Personal.

Ich will nicht immer auf Hilfe angewiesen sein

„Ich will nicht immer auf Hilfe angewiesen sein, wenn ich mit dem Rollator unterwegs bin. Ich will Sachen alleine machen können“, sagt Stefan Zinta. Der 32-Jährige wird vom Wittekindshof unterstützt und ist einer der zwölf „ParStaR“-Co-Forschenden, die untersucht haben, wie Herne gesünder und inklusiver werden kann. Dabei haben Mobilität sowie Barrierefreiheit eine große Rolle gespielt. Wenn er die U-Bahn nutze, bleibe immer ein Spalt zwischen Bahnsteig und Waggon frei, den er mit seiner Mobilitätshilfe überwinden müsse, nennt Stefan Zinta ein Beispiel. Hinzu komme, dass sich Abteiltüren oftmals zu schnell schließen und er sich dadurch unwohl und unsicher fühle. Zu den regemäßigen Projekttreffen im Wittekindshofer Kontakt- und Informationszentrum (KIZ) Herne laufe er daher lieber eine Dreiviertelstunde zu Fuß.

Verantwortung und Selbstbewusstsein

Mehr als 40 Arbeitstreffen und 60 Aktivitäten liegen hinter den „ParStaR“-Co- Forschenden. „Die Co-Forschenden haben dabei selbst ihre Vorträge erarbeitet, die Moderationsrollen übernommen oder mit Fremden in Bussen Gespräche aufgenommen über die Stadt und ihr Engagement in dem Projekt", sagt Julia Brüggemann. „Wir haben Herne dadurch ganz anders kennengelernt. Ich schaue jetzt genauer in der Stadt hin“, sagt Muharrem Saygün.

So haben die Co-Forschenden etwa eine Fotosafari durch die Stadt unternommen, um zu dokumentieren, wo es Ihnen gut gefällt und wo nicht. Gemeinsam hat das Team weitere Methoden, wie den „StadtRaumMonitor“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ausprobiert. Dabei handelt es sich um ein Befragungsinstrument, mit dem Menschen die eigene Umgebung bewerten können. Aber nicht nur das: „Ich werde durch das Projekt auch anders wahrgenommen. Und ich übernehme Verantwortung, weil ich es in der Stadt für mich und für andere besser machen will“, sagt Muharrem Saygün.

„Die Selbstwirksamkeit, die unsere Klientinnen und Klienten erfahren haben, ist enorm. Das steigert nicht nur das Empowerment jeder einzelnen Person, sondern auch die Einflussnahme, auf das, was in der Stadt passiert“, hat Tobias Rahe, Geschäftsbereichsleiter der Wittekindshofer Angebote in Herne und Oberhausen, festgestellt. Das Projekt sei auch für die Stiftung eine neue Erfahrung gewesen. „Mitarbeitende haben die Treffen, Reisen und Auftritte pädagogisch begleitet. Uns war wichtig, die Co-Forschenden bei Sorgen oder Problemen zu unterstützen und sie darin zu bestärken, Neues auszuprobieren.“

Nicht nur für die Stadt Herne, sondern für ganz Europa sind die Ergebnisse und unsere Arbeit wichtig.

Pia Bruchhage sagt, sie sei durch das Projekt noch selbstbewusster geworden. „Ich hätte mich früher nicht getraut, vor anderen Menschen eine Methode vorzustellen.“ Nun erklärt die 25-Jährige vor Publikum, wie die Anwendung des „StadtRaumMonitors“ funktioniert, sie ist außerdem Mitautorin eines englischsprachigen Tagungsbandes zum Projekt. „Nicht nur für die Stadt Herne, sondern für ganz Europa sind die Ergebnisse und unsere Arbeit wichtig. Ich finde es gut, wenn mehr Leute von diesen Methoden wüssten und wie man sie benutzt. Man könnte zum Beispiel auf Plakaten dafür werben“, hat sie bereits konkrete Ideen.

Zugang zu Informationen

Bei der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung am Alltag spielen nicht nur bauliche Gegebenheiten oder physische Barrieren eine Rolle, heißt es im Inklusionsbarometer. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die Zugänglichkeit von Informationen. Nur etwas mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Menschen mit Beeinträchtigung gab an, dass Fahrplanauskünfte und andere Informationen für öffentliche Verkehrsmittel klar strukturiert und inhaltlich gut verständlich seien. 48 Prozent der Befragten empfanden Fahrpläne, Hinweisschilder oder Durchsagen im Öffentlichen Verkehr als nicht gut lesbar und oder akustisch verständlich. Am kritischsten beurteilten Menschen mit Beeinträchtigung die Nutzung von digitalen Apps. Nur knapp die Hälfte (47 Prozent) stimmte demnach der Aussage zu, dass diese in der Regel übersichtlich und leicht zu bedienen seien.

„Ein Aspekt, den wir im Laufe des Projekts ebenfalls festgestellt haben, gerade als es darum ging, die Ergebnisse in einer digitalen 3D-Karte einzupflegen“, sagt Julia Brüggemann. „Wir kooperieren dazu mit der Universität Twente und der Stadt Herne in einem mit ‚ParStaR‘ verknüpften Projekt – ‚DiMDiCi‘“, sagt Prof. Dr. habil. Heike Köckler von der Hochschule für Gesundheit aus Bochum. Gemeinsam mit Prof. Dr. Christian Walter-Klose hat sie die wissenschaftliche Leitung bei „ParStaR“.

Eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung möchte die Perspektive aller Bürger und Bürgerinnen vertreten.

„DiMDiCi“, kurz für „Digital mapping with disabled Citizens“, hat zum Ziel, eine Kartierungs-Software weiterzuentwickeln, die von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen genutzt werden kann. Mit einem digitalen Kartentisch, einem Maptable, haben die Co-Forschenden daran gearbeitet und ihre Bedarfe festgehalten. Dabei wurde deutlich, dass viele digitale Karten häufig die Perspektive des Autofahrers einnehmen. Als Fußgänger oder Busreisender habe man dagegen ganz andere Orientierungspunkte. „Eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung möchte die Perspektive aller Bürger und Bürgerinnen vertreten. Menschen mit Beeinträchtigung wissen am besten, was ihre Wünsche und Bedarfe sind. Wir sind froh, sie dabei zu unterstützen und zu begleiten“, sagt Christian Walter-Klose. Genau da setzte die Projektforschung an.

„Die Abbildung von Parkplätzen auf dem Kartentisch war für unser Team irrelevant, die Co-Forschenden sind in der Stadt meist zu Fuß oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Keiner fährt selbst Auto. Auch Carsharing oder Mietroller werden wenig genutzt – da diese in der Regel über eine App buchbar sind und eine Kreditkarte hinterlegt werden muss“, weiß Julia Brüggemann.

Mobilität neu denken

Es ist also noch ein langer Weg zur inklusiven Mobilität. Zu diesem Schluss kommt auch das Inklusionsbarometer: „Mobilität ist eine Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und somit ein Menschenrecht. Dies erfordert nicht nur eine barrierefreie, sondern auch eine diverse Angebotspalette. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit, Mobilität im Sinne der Verkehrswende neu zu denken“, heißt es in der Studie. Wie das gelingen könne, gelte es nun herauszufinden.

Ein erster Schritt sei in Herne schon gemacht, sagt Julia Brüggemann. Denn nach „ParStaR“ gehe es nun mit dem Folgeprojekt „DiKomAll - Digitale Kommune für Alle“ weiter, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Kooperationspartner sind neben der Hochschule für Gesundheit die Universität Leipzig, die Universität zu Köln, die Stadt Bochum, der Wittekindshof und die Co-Forschenden selbst. Sie sollen ihre Expertisen einbringen, die sie durch „ParStaR“ gewonnen haben und Beteiligungsformate mit- und weiterentwickeln. So könne etwa der „StadtRaumMonitor“ inklusiver gestaltet werden. „Innerhalb von drei Jahren soll eine Prüfgruppe des Wittekindshofer Büros für Leichte Sprache in Herne installiert werden, die Texte in Leichte Sprache übersetzt. Außerdem wollen wir Lehrkonzepte inklusiver und partizipativer gestalten und dazu die Beteiligungsmethoden nutzen, die wir in ‚ParStaR‘ erarbeitet haben“, sagt Julia Brüggemann. Vieles ist noch Zukunftsmusik, aber „ParStaR“ habe bereits bewiesen: „Im Zweifelsfall durchbrechen wir die Barrieren selbst.“