Schlagkräftig Jeden Mittwoch fährt Sarah Klinger von Herne nach Bochum, um Schlagzeug zu spielen

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von Jaqueline Patzer

Sarah Klinger hat ihre dicke Jacke an und wartet fast etwas ungeduldig auf Mitarbeiter Max Fischer. Als dieser endlich an ihre Wohnungstür klopft, grinst sie breit. Die Vorfreude steigt. Denn Sarah wartet darauf, dass es endlich losgehen kann – zur Musikschule nach Bochum. Sie ist begeisterte Musikerin, hat schon in zig Bands gespielt – und jeden Mittwoch hat sie Schlagzeug-Unterricht. Den Weg von Herne nach Bochum bestreiten Sarah und Max mit der U-Bahn. Heute darf ich sie dabei begleiten.

„Dann lass uns mal den Rollstuhl wechseln“, sagt Max und hilft Sarah vom elektrischen Rollstuhl in den – sagen wir mal – geländegängigeren Standard-Rollstuhl. „Mit diesem Rollstuhl kommen wir besser durch die Stadt und in die Bahn“, erklärt mir Max. Später werde ich noch erfahren, was er damit genau meint.

Es ist 17.30 Uhr als wir gemeinsam am Wohnhaus an der Vinckestraße starten, in dem Sarah mit ihrem Lebensgefährten lebt und vom Wittekindshof unterstützt wird. Eine Stunde bis nach Bochum? Das ist lange. Max erklärt, dass ein guter Zeitpuffer eingeplant ist: „Manchmal funktionieren die Fahrstühle an den Bahnstationen nicht, dann müssen wir zur nächsten Station laufen.“ Vielleicht wird es heute also noch sportlich.

Während wir durch die Herner Innenstadt zur Haltestation laufen – Max hat grundsätzlich einen sehr strammen Schritt drauf – unterhalte ich mich mit Sarah. „Ich bin in Bochum zur Schule gegangen und habe da meine Musikschullehrerin kennengelernt. Claudia Schmidt hat bei uns in der Schule Unterricht gegeben. Ich fand das so cool, dass ich nach meinem Schulabschluss in den Musikunterricht gegangen bin. Wir kennen uns schon 22 Jahre“, berichtet mir die 38-Jährige, die auch schon gesungen, Klavier gespielt und in der Technischen Universität (TU) Dortmund musiziert hat sowie vor dem Oberbürgermeister Bochums aufgetreten ist.

Kein Aufzug

Ich muss schauen, dass ich nicht stolpere und mit Max’ und Sarahs Tempo mithalte. „Da ist der Aufzug gleich. Mal schauen, ob er funktioniert“, sagt Sarah, und ihr leicht ironischer Unterton lässt erahnen, dass das nicht immer der Fall ist. Wir biegen nach rechts ab. Das blaue „U“, das den Eingang zur Bahn kennzeichnet, leuchtet hell. „Da haben wir wohl Pech“, stellt Max ernüchtert fest. Vor dem Aufzug steht bereits ein Rollstuhlfahrer und telefoniert. Er gibt der Verkehrsgesellschaft die Nummer des Aufzugs durch, damit eine Reparatur veranlasst werden kann.

„Dann müssen wir wohl schnell zur nächsten Station“, sagt Max. Jetzt ist Tempo gefragt. Noch mehr. „Kommt es häufig vor, dass die Aufzüge nicht funktionieren?“, frage ich Sarah. „Ja, immer mal wieder. Deshalb haben wir den Zeitpuffer.“ Doch von einem Aufzug lassen die beiden sich nicht die gute Laune und vor allem ihre Freude auf den Schlagzeug-Unterricht nicht nehmen. „Weißt du noch, als es so geregnet hat?“, fragt Max Sarah, die sich daraufhin fast scheckig lacht. „Da ging nichts. Kein Aufzug. Wir sind fast die ganze Strecke zu Fuß gelaufen und sind klitschnass geworden. Aber lustig war es trotzdem.“ Nass werden können wir heute nicht. Kein Regen angekündigt.

Fast angekommen an der nächsten Haltestelle; ein prüfender Blick aus der Ferne: „Das sieht gut aus“, sagt Max und behält Recht. Der Aufzug funktioniert. Ich flitze schon die Treppe herunter, um mir ein Ticket zu kaufen. Sarah fährt mit ihrem Behindertenausweis kostenlos, Max als Begleitung ebenfalls. Viel schneller als die beiden bin ich zu Fuß nicht. Die Bahn fährt uns vor der Nase weg. Gut, dann haben wir etwas Zeit zu verschnaufen – sofern das mit FFP2-Maske überhaupt geht. Die nächste Bahn rollt ein und Sarah freut sich, dass es eine der neueren ist. „Dann können wir unseren Lieblingsplatz nehmen“, sagt Max und drückt den Türöffner. Der Lieblingsplatz von Sarah ist direkt am Kopf des Abteils: „Da kann ich den ganzen Wagon überblicken.“ „Und bei einer Vollbremsung auch durch den ganzen Gang schießen“, sagt Max mit einem Lachen.

Über die Rolltreppe

Was Sarah heute spielt? „Sage ich noch nicht. Ich bin gespannt, was ihr später sagt“, antwortet sie mit einem schelmischen Grinsen. „Ich schicke Claudia immer Sachen, die ich spielen möchte. Da ist alles dabei. Auch mal Schlager oder Techno.“ Techno auf dem Schlagzeug? Ich versuche mir vorzustellen, wie es klingt wenn die 38-Jährige Tracks von Techno-Legenden wie Westbam, Sven Väth oder DJ Hell auf dem Schlagzeug spielt. Und ich bin neugierig, wie Sarahs Unterricht abläuft. Wir sind da. Aussteigen. Das stellt für Max und Sarah keine Herausforderung dar. Zumal es bei den neueren Bahnen doch etwas leichter ist, da der Übergang zum Bahnsteig seichter und ebener ist.

Und als hätten wir es alle irgendwie geahnt: Der Aufzug funktioniert nicht. „Okay, jetzt müssen wir mit der Rolltreppe hoch“, sagt Max und blickt Sarah an. „Ist ja nicht so, als hätten wir das nicht schon häufiger gemacht. Es ist nicht ungefährlich, aber anders geht es jetzt nicht.“ Max schiebt Sarahs Rollstuhl an die Kante der Rolltreppe, kippt ihn nach hinten und erstmals wirkt er angestrengt. Seine Brille beschlägt. Die Rolltreppe ist eine der längeren und steileren. Die Blicke der anderen Passanten stören sie nicht.

Warmspielen

Vor der Bochumer Musikschule gesellt sich Yasemin Cetinel zu uns. „Legen wir gleich los?“, fragt sie Sarah. Die Frauen kennen sich seit 2014. Damals machte Yasemin ein Praktikum für ihr Lehramtsstudium. „Naja, wir haben uns so gut verstanden, dass wir seitdem immer gemeinsam Unterricht haben“, erklärt Yasemin, die mittlerweile Lehrerin ist. Drinnen wartet dann der nächste Fahrstuhl auf uns. Er funktioniert. Es geht ins Untergeschoss.

Lehrerin Claudia Schmidt kommt wenige Minuten später. Sarah kann es kaum erwarten, dass Max ihr hilft, die Jacke auszuziehen, ihre Drumsticks aus dem Rucksack zieht, der hinten an ihrem Rollstuhl hängt, den Hocker vorm Schlagzeug entfernt und sie sich passend an den Drums positionieren kann. Also kein großer Umbau oder irgendwas. So einfach ist das, denke ich. Warum hatte ich mir das komplizierter vorgestellt? Wahrscheinlich sind es meine Barrieren im Kopf. Eine Rollstuhlfahrerin am Schlagzeug? Als Mensch ohne Einschränkungen habe ich mir das zwangsläufig schwierig vorgestellt.

Doch Sarahs erster Schlag auf die Drums reißt mich aus meinen Gedanken. Sie spielt sich warm. „Der Schlagzeug-Unterricht ist mein Highlight.“ Sie hat „Bock“, einfach Musik zu machen. Claudia Schmidt schließt ihre Bluetooth-Box an: „Legen wir mal los.“ Max und Yasemin haben an den beiden anderen Schlagzeugen im Raum Platz genommen. Max darf als Sarahs Begleitung auch mittrommeln. „Was hast du uns heute mitgebracht?“, fragt Claudia Schmidt Sarah. Da ist es wieder, das schelmische Grinsen in Sarahs Gesicht. Es erklingt „Wer hat an der Uhr gedreht“ aus der Fernsehserie „Paulchen Panther“. Alle lachen. Sarah strahlt triumphierend.

30 Minuten trommeln

Claudia Schmidt erklärt mir, dass nun der Rhythmus nachgespielt wird. Es geht nicht ums Notenlesen, es geht ums Gehör. Sie zeigt Sarah an, wie sie spielen soll. Über die Jahre haben sie unterschiedliche Rhythmen eingeübt. Sie werden je nach Lied zusammengesetzt. Sarah spielt aufgrund einer Spastik im linken Arm mit nur einer Hand. Was der Lautstärke keinen Abbruch tut. Es wummst kräftig. Max und Yasemin setzen ebenfalls mit ein. Auf „Paulchen Panther“ folgen das Intro der Serie „Knight Rider“ und „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ aus dem Film „Das Dschungelbuch“. Dann kommt das dänische Percussion- Duo „Safri-Duo“ mit „Played-A-Live“ – ein schneller Dance-Track mit noch schnelleren Trommeln. „Du bringst uns auch immer eine bunte Mischung mit“, sagt die Lehrerin belustigt. Doch ohne zu zögern gibt sie den zu spielenden Rhythmus vor. Wieder legt Sarah vor. Max kommt kurzzeitig aus dem Takt, fängt sich aber nach den Handzeichen von Claudia Schmidt schnell wieder.

Die halbe Stunde Schlagzeug-Unterricht ist schnell vorbei. Beim Trommeln ist Sarah warm geworden. Sie hat ganz rote Wangen. „Jetzt müssen wir uns aber auf den Rückweg machen“, sagt Max und zieht Sarah die Jacke über. „Wir müssen zu einer anderen Haltestation, wegen des Aufzugs. Ich rufe schon einmal in der Vinckestraße an und sage, dass wir etwas später kommen. Die sollen dem Pflegedienst Bescheid geben.“ Sarahs Abend ist ganz schön getaktet. Aber der Pflegedienst ist zum Glück flexibel und kümmert sich erst um eine andere Person. Trotzdem geht es wieder schnellen Schrittes zur U-Bahn-Station.

Auf dem Weg unterhalte ich mich mit Yasemin, die uns noch ein Stück begleitet. Denn Sarah ist etwas ruhiger geworden. „Na, ausgepowert am Schlagzeug?“ Sarah grinst selig: „Ja, da lasse ich richtig Druck ab.“ Wir erreichen die Haltestation. Yasemin verabschiedet sich. Wir nehmen den Aufzug in den Untergrund. Denn er funktioniert.

„Bochumer Modell“

Das „Bochumer Modell“ ist eine Abteilung der Musikschule Bochum. Ende der 1970er Jahre rief Prof. Werner Probst, der erste Musikschulleiter in Bochum, gemeinsam mit der Universität Dortmund zunächst den Modellversuch „Bochumer Modell“ – Instrumentalunterricht für Menschen mit Behinderung – ins Leben. Heute werden wöchentlich 250 Schüler und Schülerinnen in 80 Unterrichtsstunden und zehn Ensemblestunden von 35 Lehrkräften unterrichtet. Grundsätzlich kann jedes an der Musikschule angebotene Instrument erlernt werden. Zudem gibt es die Möglichkeit, in einem der vielen Spielkreise, Ensembles oder Bands mit zuspielen. Die Lehrkräfte sind an Hochschulen ausgebildete Instrumentalpädagoginnen und Instrumentalpädagogen, die zum großen Teil über eine Zusatzausbildung (Instrumentalspiel mit Menschen mit Einschränkungen an Musikschulen) verfügen oder Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit dem Fach Musik. Sie arbeiten mit den Förderschwerpunkten motorische Entwicklung, Lernentwicklung, geistige Entwicklung, Sprachentwicklung, Hörentwicklung soziale Entwicklung und psychische Beeinträchtigung. Der Unterricht findet in Zweier-bis Vierergruppen, im Klassenverband oder auch als Einzelunterricht statt. Unterrichtet wird in der Musikschulzentrale und in einigen Außenbezirken, in Förderschulen, Gesamtschulen, in Wohnheimen und Kindergärten. Das Musizieren ist ein Freizeitangebot, das auch neue soziale Kontakte erschließt, es ist nicht als Therapie gedacht.

Der Bericht ist in der Ausgabe "Taktvoll" des Magazins "Durchblick" erschienen.