Blick zurück: Ein Rollstuhl für Oswald Vajen Geschichten aus dem Archiv

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Heute gehören Rollstühle ganz selbstverständlich zum Bild des Wittekindshofes. Häufig sieht man Klientinnen und Klienten, die entweder von Mitarbeitenden, Verwandten oder ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern in einem Rollstuhl gefahren werden oder selbstständig in einem Elektrorollstuhl unterwegs sind. Mittlerweile übernehmen die Kosten für diese Anschaffung in der Regel die Krankenkassen. Früher, bis in die Nachkriegszeit, sah das anders aus.

Rollstühle gab es im Wittekindshof nur wenige. Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen hatten kaum Möglichkeiten, spazieren gefahren zu werden. Oft war es so, dass ihre Betten auf die Balkone der Häuser gebracht oder, wenn die Menschen im Erdgeschoss lebten, vor das Haus gestellt wurden, damit sie auf diese Weise an die frische Luft kamen. Rollstühle waren teuer und wurden nicht durch die Kostenträger und Krankenkassen finanziert. Für die Betroffenen bedeutete das eine enorme Einschränkung ihres Lebens, hatten sie doch kaum eine Chance, jemals selbstständig das Haus verlassen zu können.

In Ausnahmefällen gab es aber Klientinnen oder Klienten, die sich damit nicht zufriedengeben wollten, so wie Oswald Vajen, der viele Jahrzehnte auf dem Gründungsgelände in Volmerdingsen lebte und dort recht bekannt war. Oswald Vajen wurde 1907 in Hamburg-Harburg geboren. Wohl schon als Säugling erkrankte er an Kinderlähmung. Infolgedessen blieben seine Beine und Füße „verkümmert“, wie es in seiner Krankenakte heißt. Zudem hatte er eine geistige Beeinträchtigung. Aus diesem Grund wurde er 1913 in der „Provinzial-Heilund Pflegeanstalt für Geistesschwache“ in Langenhagen bei Hannover aufgenommen. Weil diese Einrichtung 1938 aufgelöst wurde, kam er am 14. März 1938 in den Wittekindshof.

Schon am 17. März schrieb der Wittekindshofer Arzt Dr. Bodenstab nach Langenhagen und bat um den Selbstfahrerrollstuhl, den Oswald Vajen dort benutzt hatte. Bei seiner Verlegung war versprochen worden, ihm die Mobilitätshilfe mitzugeben. Am 22. März wurde er nach Volmerdingsen geschickt.

Lief auf den Händen

Obwohl Oswald Vajen nicht laufen konnte, hatte er trotzdem gelernt, sich fortzubewegen. Einerseits, in dem er über den Boden kroch, andererseits auf den Händen. „Er bewegt sich selbstständig, indem er den Rumpf zwischen den aufgestützten Händen hindurch vorsetzt und ist dabei so geschickt, daß er zu Reinigungsarbeiten herangezogen werden kann“, heißt es in einem Bericht von 1946 in seiner Patientenakte. Er war trotz seiner gelähmten Beine in der Lage unter anderem auch Motorräder und Fahrräder zu putzen, ebenso Schuhe. Das versah er mit großer Sorgfalt. Treppen konnte er ebenfalls überwinden, in dem er sie herunterrutschte oder sich die Stufen mit Armkraft hinaufzog. Zudem konnte er allerhand Kunststücke machen, wie Handstand auf dem Treppengeländer oder auf einem Stuhl. Mit einem Handfeger reinigte er sogar die Fußböden der Wohngruppe oder das Treppenhaus.

Leider geben seine Akten keinen Hinweis, wo sein Rollstuhl aus Langenhagen abgeblieben war. Um 1940 schrieb er nämlich in einem Brief Dr. Bodenstab, dass er sonntags auch gerne mal ausfahren würde, aber keinen Rollstuhl hätte. Er hätte immer den Rollstuhl eines anderen Bewohners genommen, mit dem er sich abgewechselt hätte. Zudem merkte er an: „In Friedenshöhe ist [es] kalt[,] ich erkälte mir so leicht wegen [des] Steinfußboden[s].“ Gerne wollte er nämlich wieder zurück ins Lazarusheim verlegt werden. Als der Wittekindshof im Herbst 1941 im Zuge der großen Verlegungsaktion im Rahmen der NS-„Euthanasie“ geräumt werden musste, war Oswald Vajen einer von vier Bewohnern, die nach Bethel kamen. Da er auf Kosten des Landesfürsorgeamtes der Hansestadt Hamburg untergebracht war, entging Oswald Vajen somit der Verlegung in eine der westfälischen Provinzialanstalten.

Es ist anzunehmen, dass er seinen Rollstuhl nicht mit nach Bethel nehmen konnte. In seiner Patientenakte hat sich der Eigentumsnachweis erhalten, den Hausvater Seyler aus dem Lazarusheim für seinen Umzug ausgefüllt hatte. Darauf ist der Rollstuhl nicht vermerkt. Am 19. November 1948 kehrte Oswald Vajen in den Wittekindshof zurück, ohne Rollstuhl. Deshalb schrieb er in einem Brief 1949 an den Wittekindshofer Vorsteher Pastor Dr. Klevinghaus: „Ich möchte gerne auch zu[r] Kirche hin[,] ja[,] da gehe ich zu gerne hin[.] Ich habe nur keinen Wagen[.]“ Er hatte sogar ein Bild gemalt, wie der Rollstuhl auszusehen hätte. Zudem schrieb er, dass er ihn sich zu Weihnachten wünschen würde. Es könne auch ein alter sein. „Ich werde [ihn] auch immer in Ehre halten[,] aber kein Schiebewagen [sondern] ein Selbstfahrer.“ Zum Schluss erinnerte er Pastor Klevinghaus nochmal: „die anderen Jungen gehen nach der Kirche hin[,] ich kann noch nicht.“

„Krankenselbstfahrer gesucht“

1949 war ein Artikel im Kirchenblatt „Neue Kirche“ erschienen, in dem Oswald Vajens Bitte um einen Rollstuhl vorgetragen wurde. Tatsächlich meldete sich darauf jemand aus Bad Oeynhausen und schrieb am 25. Oktober 1949: „In dem Nachrichtenblatt der ‚Neuen Kirche‘ las ich heute, dass für den guten, armen, Oswald ein Krankenselbstfahrer gesucht wird. Ich besitze einen solchen, und möchte denselben gern zur Verfügung stellen, nur kann ich das leider nicht ganz umsonst. Es ist ein schönes und starkes Fahrzeug von der Firma Voltmann und hat seinerzeit über 700 Mk gekostet. Ich bin ein alter, armer Mann (83 Jahre alt) und wäre mit 180 Mk zufrieden, auch wenn dieser Betrag in 3 Raten gezahlt würde. Vielleicht ließe sich diese bescheidene Summe durch eine Sammlung aufbringen. So gern will ich dem unglücklichen Mann helfen, den Gottesdienst zu besuchen und auch sonst dem Leben näher zu bringen.“

Der Wittekindshofer Wirtschaftsinspektor Feyerabend zögerte nicht lange und kaufte den Rollstuhl. In einer Notiz an Pastor Klevinghaus schrieb er am 02. November 1949: „… diesen hat Oswald bereits erhalten. Die Freude hierüber war ganz gross.“ Oswald Vajen konnte sich nun ohne große Mühen auf dem Wittekindshofer Gelände frei bewegen, da er in der Lage war, den Rollstuhl selbstständig zu besteigen und mit Kraft seiner Arme zu bewegen. Auch die Steigungen innerhalb der Einrichtung konnte er bewältigen.

Jahrzehnte lang gehörte Oswald Vajen zum alltäglichen Bild des Wittekindshofes in Volmerdingsen, weil er bei gutem Wetter immer unterwegs war. Mit zunehmendem Alter schwanden seine Kräfte, sodass schon 1975 ein neuer Rollstuhl für ihn beantragt wurde. Leider geht aus den Akten nicht hervor, ob er ihn bekommen hat. Genutzt hat er ihn aber nicht, denn weiterhin fuhr er mit seinem alten Selbstfahrer auf dem Gelände umher. Nach einer längeren Erkrankung bekam er schließlich Mitte 1987 einen elektrischen Rollstuhl, den er selber bedienen konnte und mit dem er zufrieden war. Am 25. Januar 1991 verstarb Oswald Vajen nach kurzer schwerer Krankheit und wurde auf dem Neuen Friedhof beigesetzt.

Der „Blick zurück“ gibt Einblicke in die Geschichte des Wittekindshofes, und die Menschen, die die Stiftung geprägt haben. Weitere Informationen zur Historie gibt es hier.