Erinnerung wachhalten 530 Wittekindshofer Klienten und Klientinnen erhalten Geld der Stiftung "Anerkennung und Hilfe"

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Volker Müller sitzt auf seinem Sofa und blättert durch das Reisetagebuch, das er gemeinsam mit einer Mitarbeiterin während seiner Amerika-Reise geführt hat. Durch die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ konnte der Lübbecker sich seinen Traum erfüllen und seinen älteren Bruder in den USA besuchen.

Kreis Minden-Lübbecke/ Bad Oeynhausen/ Lübbecke (JP). Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ von Bund, Ländern und Kirchen hat nach über sechs Jahren Laufzeit ihre Arbeit beendet. Die Stiftung hat laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales rund 245 Millionen Euro an 23.837 Betroffene ausgezahlt, die zwischen 1949 und 1975 als Kinder oder Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland oder zwischen 1949 und 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an den Folgen leiden. Unter ihnen auch 530 Frauen und Männer, die vom Wittekindshof unterstützt wurden oder noch werden.

Als 2017 die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ eingerichtet wurde, war Volker Müller einer der ersten Klienten der Diakonischen Stiftung Wittekindshof, der einen Antrag stellte. Er erhielt dank der tatkräftigen Unterstützung seiner rechtlichen Betreuerin eine Anerkennung und entsprechende Geldzahlung. Mit dem Geld konnte Volker Müller sich seinen großen Traum erfüllen: Er besuchte seinen älteren Bruder Lothar in Amerika.

Lange Zeit ohne Familie

„Doch lange Zeit wusste ich nicht, dass ich eine Familie habe“, sagt Volker Müller während er auf seinem Sessel in seinem Wohnzimmer sitzt. Seine Kindheit verbachte der gebürtige Chemnitzer in Kinderheimen in der ehemaligen DDR. „Auf einmal standen an Weihnachten zwei alte Leute vor mir – das waren meine Oma und mein Opa, haben die Mitarbeiterinnen gesagt“, erinnert sich der heute 78-Jährige und zuckt mit den Schultern. Sein Vater habe seine Großeltern beauftragt, zu schauen, wie es ihm ging.

„Mein Vater war ein feiner Mann. Der hat mich gesucht und im Oktober 1958 auch rüber geholt.“ Kurzzeitig lebte Volker Müller bei seinem Vater und seiner Mutter. Doch die Mutter wollte ihn nicht haben, wie er sagt. „Die hat mich immer rausgejagt, nix Warmes zu essen habe ich bekommen.“ Er kommt mit 13 Jahren wieder in ein Kinderheim, später veranlasst sein Vater die Aufnahme im Wittekindshof. Den Brief an die damalige Anstaltsleitung hat Volker Müller noch griffbereit. Detailliert und liebevoll beschreibt der Vater die Fähigkeiten und Stärken seines Sohnes – wie in einem Bewerbungsschreiben. „Er wollte, dass es mir gut geht.“

1964 zog Volker Müller mit 19 Jahren in das Haus Bethanien nach Volmerdingsen. „Das gefiel mir da aber gar nicht“, sagt er und winkt mit der Hand harsch ab. „Das war wie ein Krankenhaus. Und die Türen waren immer zu.“ Wenige Monate später nutzte der er seine Chance und zog nach Espelkamp-Benkhausen. „Da war nichts los, aber ich wollte doch etwas erleben.“ Zumindest sei die Arbeit gut gewesen. „Erst habe ich in der Gärtnerei gearbeitet, später in der Hauswirtschaft. Da habe ich gekocht und gewaschen. Das war mein Ding“, erinnert er sich. Viele Wohnbereiche folgten, später auch eine Wohngemeinschaft. Heute lebt der 78-Jährige allein in seiner eigenen Wohnung mitten in Lübbecke. „Ich kann zu Fuß zum Arzt und einkaufen und die Mitarbeitenden kommen und helfen mir.“

Seinen Bruder Lothar kannte er damals von zuhause. „Wir haben mal telefoniert, aber Lothar ist beruflich viel umgezogen.“ Im August 2018 dann ist es soweit: Eine Mitarbeiterin begleitet Volker Müller ehrenamtlich. Wochen vorher fängt er an, Englisch mit ihr zu lernen. 14 Tage lang sind sie in der Nähe von Seattle. Lothar zeigt ihnen die Umgebung und sie lernen seine Freunde kennen. „Wir haben ein Reisetagebuch geführt.“ Zwei Mal war sein Bruder seit dieser großen Reise schon bei ihm in Deutschland zu Besuch. Derzeit telefonieren die Geschwister regelmäßig. „Jetzt möchte ich noch einmal hin, so lange es gesundheitlich noch geht.“

Wittekindshof setzt sich für Einrichtung der Stiftung ein

„Der Wittekindshof hat sich sehr für die Einrichtung der Stiftung Anerkennung und Hilfe eingesetzt. Mit zwei großen historischen Studien haben wir die problematischen Verhältnisse und Vorgänge in der Nachkriegszeit bis 1975 sehr selbstkritisch aufgearbeitet. Und wir sind deshalb sehr froh, dass insgesamt 530 ehemalige und aktuelle Klienten und Klientinnen aus dem Wittekindshof solche Anerkennung beantragt und auch erhalten haben“, betont Pfarrer Prof. Dr. Dierk Starnitzke, Vorstandssprecher. Nun solle auch nach Beendigung der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ die Erinnerung an das Geschehene und die Menschen wachgehalten werden. „Als Ort des Gedenkens und der Mahnung soll auf dem Gründungsgelände in Volmerdingsen daher in absehbarer Zeit eine Gedenktafel an prominenter Stelle platziert werden“, kündigt Starnitzke an.