„Ein neues Wir“ Experten in eigener Sache berichten bei Aschermittwochsempfang über ihre Erfahrungen

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Bad Oeynhausen/Lübbecke (JP). Zum diesjährigen Aschermittwochsempfang, der erstmals in der Stadthalle Lübbecke stattfand, haben vier Experten und Expertinnen in eigener Sache über ihre Erfahrungen und Herausforderungen in der Eingliederungshilfe berichtet. Vorstandssprecher Prof. Dr. Dierk Starnitzke interviewte sie bei einem Podiumsgespräch.

„Es ist uns ein wichtiges Anliegen, unsere Arbeit personen- und klientenorientiert auszurichten. Deshalb sollen in diesem Gespräch auch unsere Auftraggeber, Angehörige und Mitarbeitenden mit ihren individuellen Bedürfnissen und Erfahrungen zur Sprache kommen“, betonte Starnitzke zu Beginn.

Volker Müller wurde 1945 geboren und wird seit 1964 vom Wittekindshof unterstützt. Seit 2004 lebt er in seiner eigenen Wohnung in Lübbecke. Volker Müller war einer der ersten Klienten des Wittekindshofes, der einen Antrag bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe gestellt und eine Anerkennung und entsprechende Geldzahlung erhalten hat. „Die von der Stiftung haben gesagt, das Geld gehört mir und da darf der Staat nicht dran“, führte der Lübbecker aus. „Und ich dachte: Jetzt kann ich meine große Reise machen!“ Volker Müller erfüllte sich mit dem Geld, das er für sein erfahrenes Leid in der Behindertenhilfe zwischen 1949 und 1975 erhalten hat, seinen großen Traum und besuchte seinen älteren Bruder Lothar in Amerika. Sie haben noch heute Kontakt und sein Bruder hat ihn bereits mehrfach in Deutschland besucht.

Melanie Backs hat von Jugend an in verschiedenen Wohnangeboten des Wittekindshofes gelebt, unter anderem auch in geschlossenen Bereichen. Sie wurde als Kind im Kinder- und Jugendbereich aufgenommen und hat die Schule Wittekindshof besucht. In der Werkstatt hat sie das Nähen gelernt und es als Hobby weiter ausgebaut. Zudem ist sie sehr engagiert: „Ich bin zweite Vorsitzende im Werkstattrat und setze mich für die Probleme der Beschäftigten ein. Und ich lese im Gottesdienst an der Kanzel Texte aus der Bibel vor“, berichtete die Bad Oeynhausenerin. Seit 2019 wohnt Melanie Backs in einer Vierer-Wohngemeinschaft am Neinstedter Weg. „Früher konnte ich viele Sachen nicht alleine machen. Vorher musste ich wegen Krisen aus einer Wohngruppe raus. Jetzt bin stabil und mir gefällt es sehr gut in der WG. Wir sind zwei Frauen und zwei Männer. Im Keller haben wir im Wohnbereich ein Nähzimmer eingerichtet. Ich habe eine eigene Nähmaschine und nähe da manchmal mit einer Mitarbeiterin Sachen – Tischdecken und so. Heute geht es mir besser und so wie ich wohne ist es gut“, erzählte sie den gut 230 Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Dr. Regina Wiedemann ist in der Leitung eines großen Klinikverbundes im Konzernrisikomanagement tätig und stellvertretende Vorsitzende des Angehörigenbeirates (ABR) des Wittekindshofes in Ostwestfalen. Sie ist die Ersatzbetreuerin ihrer jüngeren Schwester Katja, die seit 2004 im Haus Morgenstern auf dem Gründungsgelände lebt. „Katja war Mitte 20 und ich 35 Jahre alt, als sie zuhause auszog. Es war eine große Herausforderung für uns, Katja loszulassen. Wir wollten sie zuhause behütet wissen. Wir hatten Sorgen, was ist, wenn Katja nach Hause möchte, wird gut auf sie aufgepasst und vieles mehr. Am Ende war es meine Schwester, die uns überrascht hat. Sie war richtig cool und gestaltet ihr Leben heute so selbstbestimmt wie möglich“, berichtete Regina Wiedemann, die dabei ist, die volle rechtliche Betreuung ihrer Schwester von ihrer Mutter zu übernehmen. „Dabei muss ich in mehreren Rollen unterwegs sein: Ich muss als rechtliche Betreuerin immer in Katjas Sinne handeln, muss aber auch einfühlsame Schwester sein und habe ein Privatleben.“ Hinzu käme viel Bürokratisches, was sie sich aneignen müsse. Sie wünsche sich mehr Kontakt zu Gleichgesinnten, Geschwister oder Angehörige von Menschen mit Behinderung, die in die Rolle der rechtlichen Betreuung hineinwüchsen: „Nicht Eltern, die sind anders emotional gebunden und erfahrener“, sagte Wiedemann. Ihr sei der Austausch auf Augenhöhe wichtig und diesen werde sie in ihrer Arbeit im ABR weiter vorantreiben.

Diakonin Katy Wattenberg arbeitet seit 18 Jahren für die Stiftung und leitet einen Geschäftsbereich auf dem Campus, in dem auch Menschen mit außergewöhnlich intensivem Assistenzbedarf leben. Als Leitungskraft berichtete sie, welche Voraussetzungen benötigt werden, um Teilhabe zu ermöglichen: „Es benötigt interne Ressourcen wie Teams, die fachlich gut aufgestellt sind, oder gute Beziehungen zu den Frauen und Männern haben. Hinzu kommt die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Psychologen und Therapeuten und die externen Ressourcen wie personelle, strukturelle und räumliche.

Diese müssen wir immer individuell mit dem Hauptkostenträger verhandeln, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe.“ Mit diesen Ressourcen seien dann tolle Entwicklungen möglich: „Wir unterstützen einen jungen Mann, der in einem eigenen Appartement lebt. Er wird immer von zwei Mitarbeitenden pro Dienst begleitet. Bei ihm sind Krisenprävention und -management besonders wichtig. Selbst- und Fremdgefährdung spielen auch eine Rolle. Kürzlich ist er auf einer Freizeit in Cuxhaven gewesen. Er hat diesen Wunsch gegenüber dem LWL formuliert und mit den Ressourcen war es auch möglich, diesen Wunsch zu erfüllen“, berichtete Katy Wattenberg, die aber auch deutlich machte, dass es Grenzen gibt – fachliche sowie emotionale. „Wir müssen dann eng zusammenarbeiten: der Wittekindshof, externe Experten und auch Ordnungsbehörden.“

Da sei ein neues „Wir“ gefordert, wie auch Maria Loheide in ihrem Vortrag forderte. Angesichts aktueller Herausforderungen wie Klimawandel, zunehmender sozialer Ungleichheit oder dem Ukraine-Krieg ist nach Einschätzung der Diakonie Deutschland ein breites Bündnis nötig. Die komplexen Probleme seien nur dann zu lösen, wenn es gelinge, die Expertise aller gezielt zusammenzubringen, sagte die Diakonie-Sozialvorständin.