„Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird!“
Christian Morgenstern, deutscher Dichter (1871-1914)
Jan-Hendrik Schäfer ist 2008 aus seinem Elternhaus in Herten ausgezogen in eine Wohngemeinschaft der Diakonie Recklinghausen. Neun Jahre lang lebte er als einziger mit dem Prader-Willi-Syndrom (PWS) zusammen mit anderen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Immer weniger kam er damit zurecht, dass das Betreuungskonzept nicht zu seinen speziellen Bedürfnissen passte. Er entwickelte Misstrauen gegenüber dem Betreuungsteam und teils sehr aggressive Verhaltensweisen gegenüber seinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern. 2017 zogen die Eltern die Notbremse und meldeten ihn im neuen PWS-Wohnangebot in der Mont-Cenis-Straße 158 in Herne-Sodingen an.
Hier fühlt er sich mittlerweile wohl, hier geht es ihm gut, hier ist er daheim. Der 32-Jährige wohnt in einem Appartement zusammen mit seinem Mitbewohner Alexander. Die beiden jungen Männer teilen sich die Küche, das Bad und das Wohnzimmer und lieben ihre Einzelzimmer als individuell gestaltete Rückzugsorte.
Ständig wiederkehrende Verpflichtungen im Haushalt wie Zimmerputz, das Beziehen des Betts und das wöchentliche Wäschewaschen gehören für Jan-Hendrik mittlerweile genauso selbstverständlich zur Alltagsroutine wie das tägliche Ausräumen der Spülmaschine oder das Ordnunghalten in den gemeinschaftlich genutzten Bereichen und werden selbständig, selbstverständlich und ohne Murren erledigt. Auch die Selbständigkeit bei der Essenszubereitung hat sich sehr verbessert. Mittlerweile bereitet er seine täglich benötigten Milch- und Brotmahlzeiten für Frühstück und Abendessen unter der Anleitung der Mitarbeitenden selbständig vor, wiegt Marmelade, Frischkäse, Wurst und Käse alleine ab und deponiert sie unbehelligt im eigenen Kühlschrank.
Bewegung ist für Jan-Hendrik ganz wichtig: Der junge Mann steigt montags und donnerstags aufs Trimm-Rad, mag den KIZ-Sportreff mit Max im Stadtgarten und ganz besonders sein Judo-Training. Seit 2017 trainiert er alle 14 Tage beim DSC in Wanne-Eickel und hat 2018 die Prüfungen des Deutschen Judo-Bundes für den weiß-gelben Gürtel gemacht sowie 2019 den gelben Gürtel geschafft. Zum Training fährt er mit dem Bus, seine Mutter holt ihn von dort oft mit dem Auto ab und bringt ihn zurück. Jan-Hendrik hofft, dass die coronabedingte Zwangspause bald vorbei ist, denn er vermisst das Training sehr.
Auch beim Thema Arbeit ist Jan-Hendrik gut aufgestellt und benötigt keine Unterstützung. Pünktlich steht er morgens auf, muss an Körperpflege und angemessene Bekleidung nie erinnert werden, steigt um 06:30 Uhr in den Bus der Linie 311 ein, der ihn zum Herner Hauptbahnhof bringt, wechselt dort in den Schnellbus 20, mit dem es dann in die Recklinghäuser Werkstatt der Diakonie in der Hubertusstraße geht. Dort arbeitet er im Montagebereich und verpackt vorwiegend medizinischen Sachbedarf. In der Kantine wählt er sich ein für ihn kalorienmäßig angemessenes Mittagessen und gönnt sich ab und zu mal einen Nachtisch – je nachdem, was es gibt. Nach Feierabend um 15:00 Uhr fährt er den gleichen Weg zurück und ist dann um 15:45 Uhr wieder in Herne, freitags auch schon eine Stunde eher.
Nach Feierabend zockt er in seinem Zimmer gerne Fußball oder Kampfspiele auf seiner Playstation und schaut als ausgesprochener Serien-Fan gerne Folgen von „Niedrig und Kuhnt“, „Alles, was zählt“, „Unter uns“ oder „GZSZ“, wovon er von Anfang an ein treuer Anhänger ist. Manchmal trifft er sich auch mit Alina in der Gemeinschaftswohnung auf eine Runde „Skip-Bo“. Alle 14 Tage freut er sich auf das Treffen der „Freitags-Gruppe“ der Lebenshilfe unter Leitung von Lena, an dem er schon seit vielen Jahren gerne teilnimmt. Dann fährt er mit dem Bus nach Recklinghausen, trifft sich um 17:00 Uhr am Hauptbahnhof mit Gleichgesinnten zum Stadtbummel im Palais Vest oder in der Innenstadt. Am Ende gibt es immer die gemeinschaftliche Einkehr auf einen Snack und ein Getränk, „und dann gönne ich mir auch mal etwas Ungesundes wie Döner, Pommes oder eine Box beim Chinesen – ist aber eine Ausnahme, weil das zu viele Kalorien für mich sind!“ berichtet er wie selbstverständlich.
Alle 14 Tage verbringt Jan-Hendrik das Wochenende bei seinen Eltern in Herten-Langenbochum. Dort, wo er bis 2017 daheim war, hat er immer noch ein kleines, eigenes Zimmer. Dann genießt er es, auszuschlafen, mit den Eltern Klamotten oder Schuhe shoppen zu gehen und den Lieblingsfriseur zu besuchen. Er mag die gesunde Hausmannskost von Mama besonders gerne, die für alle das Gleiche kocht. „Nur wenn es Spaghetti Bolognese gibt, steigt der Papa aus, das mag der nicht! Das kocht die Mama nur für mich“ freut sich der Sohnemann.
Es gibt auch Bereiche, die Jan-Henrik gerne noch weiter üben möchte und wo er Unterstützung braucht:
Der Umgang mit Geld gelingt ihm in der Größenordnung seines Taschengelds, größere Summen kann er noch nicht gut überblicken. Das selbständige Einkaufen aller notwendigen Waren für den täglichen oder wöchentlichen Bedarf ist eine knifflige Aufgabe, die ihm noch Kopfzerbrechen bereitet. Auch bei Verträgen, bei der Sparkasse und anderen Behörden, verlässt er sich gerne auf seine Mutter, die ihn als gesetzliche Betreuerin unterstützt. Auch fällt ihm der Umgang mit unvorhergesehenen Situationen schwer. Da gerät er schnell in Stress und weiß sich nicht recht zu helfen, wenn dann kein Mitarbeitender oder die Eltern greifbar sind. Genauso ist es, wenn er die Prioritäten bei seinen Aufgaben nicht selbst setzen kann. Dann wächst ihm die Situation schon einmal über den Kopf und „ich bekomme richtig schlechte Laune“, sagt er zerknirscht. Ungerechtigkeiten kann er überhaupt nicht leiden, da wird er richtig sauer und braucht reflektierende Gespräche, um wieder runterzukommen.
Jan-Hendrik hat vom Wittekindshofer PWS-Konzept, das er daheim in der Mont-Cenis-Straße erleben durfte, maximal profitiert. Verlässliche Mahlzeiten und klarer Rahmen, verbindliche Absprachen und zuverlässige, für alle geltende Spielregeln sowie regelmäßige Reflektionsgespräche braucht er genauso wie ein Maximum an Individualität im Rahmen seiner Möglichkeiten. Mit seinen bisher erworbenen und verfestigten Voraussetzungen ist er somit in der Lage, den nächsten Schritt in ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben zu gehen.
„Ich möchte in meiner eigenen Wohnung leben und mir nur bei den Dingen helfen lassen, die ich noch nicht so gut kann“, sagt er selbstbewusst. „Ich schaffe das schon!“
Beste Voraussetzungen!