Iwona Stawinoga fokussiert sich auf die Hände ihres Gegners. Langsam setzt sie einen Fuß nach vorne, verlagert das Gewicht, bevor der Angreifer zum Schlag ausholt. Kurzes Luftholen, dann wehrt sie die Faust mit dem Unterarm ab, dreht sich zur Seite und drückt dem Gegner ihre Hand in den Rücken. Glücklicherweise droht der 24-Jährigen keine Gefahr. Iwona Stawinoga trainiert Wing Tsun. Einmal wöchentlich besucht die Hernerin die Schule von Lars Heyden im Ortsteil Eickel.
Bewegungen des Gegners fühlen
„Wing Tsun ist eine Kampfsportart, die sich aus dem Kung-Fu ableitet. Im Fokus stehen Selbstverteidigung und Selbstbehauptung. Ziel ist es, den Gegner innerhalb kurzer Zeit bewegungs- und kampfunfähig zu machen“, erklärt der Leiter der Wing-Tsun-Schule Herne, die der Europäischen Wing-Tsun-Organisation (EWTO) untersteht. Dabei sind die Techniken so ausgerichtet, die Kraft oder auch die Schwachpunkte des Gegners zum eigenen Vorteil zu nutzen. „Wing Tsun ist eigentlich ein fauler Sport“, sagt er und lacht. „Die Schülerinnen und Schüler lernen die Bewegungen des Gegners zu fühlen, seine Körpersprache zu lesen. Es geht darum, wenige Bewegungen machen zu müssen, um sich zu verteidigen.“ Nicht auf die eigene körperliche Stärke kommt es an, sondern auf Konzentration und schnelle Reflexe. „Wir weichen nicht zurück und nehmen stattdessen den Raum des Angreifers ein. Eine vermeintlich unterlegene Person kann mit diesen Techniken die Oberhand gewinnen“. So wie Iwona Stawinoga es gerade mit Trainingspartner Fabio (16) geübt hat.
Jeder kann mitmachen
„Ich wollte lernen, wie ich mich selbst verteidigen kann“, sagt die 24-Jährige. Sie lebt im Wohnhaus an der Vinckestraße, in dem sie sich eine Wohnung mit einer Mitbewohnerin teilt und vom Wittekindshof unterstützt wird. „Ich hatte immer Angst, wenn ich alleine unterwegs war.“ Und Iwona Stawinoga ist viel unterwegs: Neben dem Wing-Tsun-Training, geht sie außerdem zu einer Tanzschule und nimmt einmal wöchentlich am Lauftreff teil, der vom Wittekindshofer Kontakt- und Informationszentrum (KIZ) Herne angeboten wird. „Ich bewege mich gerne. Das macht mir Spaß und hilft mir gegen Stress.“ Der Vorschlag einer Mitarbeiterin, beim Probetraining der Wing-Tsun-Schule mitzumachen und sich ihrer Angst zu stellen, kam für die sportliche Hernerin daher gerade richtig. „Bei uns kann jeder mitmachen“ betont Lars Heyden. So habe er schon einen Rollstuhlfahrenden und eine Person mit Sehbehinderung unterrichtet. „Wir machen mit jedem und jeder ein Probetraining und gehen dann im Gespräch auf persönliche Probleme und Ziele ein, um das Training an die individuellen Wünsche anzupassen.“ Während des Trainings herrscht eine familiäre Stimmung. Man kennt sich, plaudert miteinander und tauscht sich aus. „Das macht die Schule aus“, findet Lars Heyden. „Wir machen kontinuierlich etwas zusammen, ob es ein gemeinsames Grillen ist – oder Spaziergänge und Ausflüge.“ Die Beweggründe der Kurs-Teilnehmenden sind vielfältig, hat Lars Heyden über die Jahre festgestellt: „Wir trainieren beispielweise Kinder, die in der Schule Probleme haben oder gemobbt werden, Jugendliche, die Selbstverteidigung lernen, oder Erwachsene, die selbstbewusster oder sportlicher werden wollen.“
Konzentration gefordert
Egal, welche Ziele die Teilnehmenden haben, gestartet wird jedes Training mit einer gemeinsamen Aufwärmrunde. Iwona Stawinoga sucht sich einen Platz zwischen den anderen Trainierenden vor der großen Spiegelfront im hellen Trainingsraum. Langsam strecken die Wing-Tsun-Schülerinnen und -Schüler die Arme aus, lassen sie kreisen, dehnen die Muskeln. In einer Ecke steht ein Box- Dummy, mit dem auch ohne Partner trainiert werden kann. Die Puppe kommt heute aber nicht zum Einsatz. „Willst du mal würgen?“, fragt Lars Heyden die 24-Jährige. Jetzt ist Rollentausch angesagt. Iwona Stawinoga greift an, Fabio verteidigt. Immer wieder wiederholen sie die Bewegungsabläufe. Das Training macht der Hernerin sichtlich Spaß. „Es ist aber auch anstrengend und man muss sich konzentrieren“, sagt sie, fächelt sich Luft zu und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, die ihr Max Fischer reicht. Er ist Mitarbeiter in der Diakonischen Stiftung Wittekindshof und begleitet Iwona Stawinoga zu ihren Trainingsstunden. „Das gibt zusätzliche Sicherheit. Hauptsächlich begleite ich Iwona aber auf dem Weg hier her.“ Jede Woche geht es mit dem Bus von der Vinckestraße nach Eickel. Den Fahrtweg hat sie mittlerweile gut verinnerlicht. „Iwona macht super Fortschritte. Ziel ist es, dass sie eigenständig zur Schule fährt und am Training teilnehmen kann“, sagt Fischer. Stawinoga fügt hinzu: „Und durch das Training fühle ich mich sicherer, wenn ich alleine draußen bin.“