Dr. Regina Wiedemann „Ich musste mir bewusst machen, dass ich als rechtliche Betreuung für meine Schwester Katja nun mehrere Rollen erfülle“

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„Katja war 25 und ich 35 Jahre alt, als sie zuhause auszog“, erinnert sich Dr. Regina Wiedemann. Ihre jüngere Schwester lebt seit 2004 im Haus Morgenstern auf dem Gründungsgelände der Diakonischen Stiftung Wittekindshof. „Es war damals eine große Herausforderung für uns als Familie, Katja loszulassen. Sie war immer mittendrin und eigentlich wollten wir sie weiterhin zuhause gut behütet wissen. Meine Mutter war treibende Kraft, als es darum ging, dass Katja vom Wittekindshof unterstützt wird. Sie wollte ihr mehr Selbstständigkeit ermöglichen und verhindern, dass meine andere Schwester und ich uns verantwortlich für Katja fühlen und deswegen unsere eigenen Lebenswege nicht gehen.“

Doch mit dem Auszugsplan seien auch Fragen und Sorgen aufgekommen: „Gefällt es ihr dort? Was ist, wenn Katja nach Hause möchte und weint? Wird gut auf sie aufgepasst?“ Der Auszug aus dem Elternhaus ist nun fast 20 Jahre her. Die Ängste und Sorgen der Angehörigen haben sich aber nicht bestätigt. Das Gegenteil ist eingetreten: „Während wir eher angespannt waren, war Katja schon beim Umzug eine coole Socke und hat das ganz locker genommen. Damit hat sie uns alle überrascht. Im Laufe der Jahre hat sie sich beim Wittekindshof gut weiterentwickelt – wohl besser als sie es zuhause gekonnt hätte – und gestaltet ihr Leben heute so selbstbestimmt wie möglich“, sagt Regina Wiedemann.

Schrittweise Übernahme

Dr. Regina Wiedemann ist in einem großen Klinikverbund als Leitung des Konzernrisikomanagements tätig und stellvertretende Vorsitzende des Angehörigenbeirates (ABR) des Wittekindshofes in Ostwestfalen. Derzeit ist sie noch Ersatzbetreuerin für ihre Schwester, wird aber in naher Zukunft die rechtliche Betreuung von ihrer Mutter Elsa Wiedemann komplett übernehmen. „Meine Mutter nimmt sich schrittweise zurück, so dass wir einen schrittweisen Übergang schaffen“, erklärt die Ruhrgebietlerin, die dankbar dafür ist, ihre Mutter für Fragen an ihrer Seite zu wissen: „Beispielsweise sind wir die vor dem Hintergrund des Bundesteilhabegesetzes neu gestalteten Verträge zusammen durchgegangen. Als gesetzliche Betreuung kommen rechtliche Angelegenheiten und viel Bürokratie auf mich zu. Damit hatte ich vorher als Ersatzbetreuerin kaum zu tun. Allmählich übernehme ich nun diese Aufgaben von meiner Mutter.“

Als „Küken“ im ABR

Durch ihre Mutter kam Regina Wiedemann auch zum Angehörigenbeirat. „Mit Mitte 30 war ich damals das Küken“, erinnert sie sich. Auch wenn der ABR sich primär für die Belange der Bewohnerinnen und Bewohner des Wittekindshofs einsetzt, habe sie im Laufe der Jahre auch viele Impulse für ihre eigene Situation mitgenommen. „Im ABR sind wir nah dran an Alltagsproblemen. Experten des Wittekindshofs nehmen an unseren Treffen teil und holen uns bei aktuellen Themen ab, erklären und sind ansprechbar. Auch der Austausch von Angehörigen untereinander ist absolut gewinnbringend.“

Trotzdem wünsche sie sich noch mehr Kontakt zu Personen in ähnlicher Situation: Geschwister oder Angehörige wie Tanten oder Onkel, Cousinen oder Cousins von Menschen mit Behinderung, die in die Rolle der rechtlichen Betreuung hineinwüchsen: „Eltern sind emotional anders unterwegs und viel erfahrener“, sagt Wiedemann. Der Austausch mit ihnen sei nicht vergleichbar, auch wenn er für sie sehr hilfreich sei.

Rollenwechsel

Den bürokratischen Part einer rechtlichen Betreuung müsse sie sich erarbeiten. Hilfreich seien dabei auch Kontakte, die über die ABR-Arbeit entstanden sind, aber auch Betreuungsvereine böten Unterstützung an, etwa in Abendseminaren.

Bei der emotionalen Komponente, die diese neue Aufgabe mit sich bringe, stehe man aber oft sehr alleine da. „Ich musste mir bewusst machen, dass ich nun mehrere Rollen erfülle: Als rechtliche Betreuung will ich Katja optimal unterstützen und begleiten. In dieser Funktion muss ich ihr anders begegnen, sie als zwar behinderte, aber eigenständige Person wahrnehmen, nicht als Schwester wie früher sehen. Dabei hilft mir auch ein konstruktiver Austausch mit den Mitarbeitenden sehr und viel Selbstreflexion. Als Familienangehörige würde ich vielleicht Dinge einfach entscheiden oder machen, weil ich es als Schwester immer so gemacht habe. Das ist aber falsch und wäre wohl manchmal übergriffig. Ungewollt könnte ich so eventuell Zwang ausüben. Es geht nicht um mich. Daher stelle ich mir als Betreuerin immer häufiger die Frage: Ist dies oder das richtig? Was will Katja? Das verlangt mir mehr Geduld ab. Und trotzdem bleibe ich ja liebende Schwester.“

Diese Geduld habe sie auch in anderen Zusammenhängen lernen müssen, beispielsweise beim Zähneputzen. „Alle drei Wochen holen meine Eltern Katja zu sich nach Hause, mein Mann und ich sind dann auch oft da. Früher habe ich Katja die Zähne geputzt und ihr diese Aufgabe einfach abgenommen. Im Wohnbereich macht sie das aber selbst. Also wollte sie das zu Hause irgendwann auch. Das dauert viel länger, aber ich frage sie nun, ob ich helfen darf. Das möchte sie dann nach einer gewissen Zeit, aber das meiste schafft sie ganz alleine. Ich zeige ihr immer wieder, wie sie auch die oberen Backenzähne putzen kann. Als rechtliche Betreuerin sollte ich nicht in alte Verhaltensweisen verfallen, die gut gemeint sind, Katjas Selbstständigkeit aber einschränken“, reflektiert Regina Wiedemann.

Den eigenen Weg finden

Nie habe es für sie zur Diskussion gestanden, dass sie die rechtliche Betreuung für ihre Schwester übernehme: „Meine andere Schwester lebt im Ausland und kann diese Aufgabe daher nicht erfüllen. Aber sie versucht, gemeinsame Urlaubstage mit Katja zu verbringen, weil ihr der persönliche Kontakt wichtig ist. Ich würde nicht wollen, dass jemand fremdes die rechtliche Betreuung übernimmt. Ganz im Gegenteil: Ich möchte das machen und meinen eigenen Weg finden, dieses Amt so gut es geht für meine Schwester auszufüllen“, betont sie. „Ich mache das aus Liebe. Doch ich versuche auch im Blick zu behalten, ob ich mir zu viel abverlange, wann es meine eigene Selbstbestimmung beeinträchtigt ist und hoffe, meine Grenzen zu erkennen.“

Dr. Regina Wiedemann ist stellvertretende Vorsitzende des Angehörigenbeirates (ABR) des Wittekindshofes in Ostwestfalen