"Vertrauen ist das A und O" Wittekindshofer Reitpädagogen im Interview

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Genüsslich wälzt sich Hilarus im Sand der Reithalle. „Ein gutes Zeichen“, sagt Sylvia Niemeier. Es zeige, dass sich der Wallach wohlfühle. Hilarus ist eines von neun Therapiepferden der Diakonischen Stiftung Wittekindshof. Seit 2001 bieten Niemeier und Michael Rahmöller Therapeutisches Reiten für Menschen mit Behinderung an. Im Interview sprechen die beiden Reitpädagogen darüber, was die Tiere leisten und was sie brauchen, um diese Arbeit zuverlässig durchzuführen.

Kann eigentlich jedes Pferd ein Therapiepferd werden?

Sylvia Niemeier: Grundsätzlich ja. Pferde sind von Natur aus soziale Wesen, die den Kontakt suchen und daher für die therapeutische Arbeit sehr gut geeignet sind – wenn sie angstfrei und gesund sind. Wir unterziehen die Tiere natürlich einem Gesundheitscheck bevor wir sie kaufen. Unabhängig davon haben wir bisher in der Regel immer junge Pferde ausgebildet, weil wir dadurch früh eine Bindung zu den Tieren aufbauen. Die ist in der therapeutischen Arbeit sehr wichtig – für Tier und Mensch.

Ein bereits ausgebildetes Therapiepferd zu kaufen, wäre also nicht unbedingt sinnvoll?

S. Niemeier: Genau, da die Ausbildung ganz an die Bedürfnisse der Therapie angepasst ist. Und das leitet sich auch von den Gegebenheiten vor Ort ab. Beispielsweise steigen die Reiterinnen und Reiter bei uns von einer Rampe aus in den Sattel. Das lässt sich nur vor Ort üben. Wir müssen die Pferde zwar selbst einreiten und an Trense, Sattel und Reitergewicht gewöhnen – so können wir sie währenddessen aber auch an unser ganz eigenes Setting heranführen.

Was ist das für ein Setting, und welche Anforderungen müssen die Tiere erfüllen?

Michael Rahmöller: Das Angebot steht jedem und jeder offen. Das bedeutet auch: Die Pferde lernen ein ganz großes und vielseitiges Spektrum unterschiedlicher Menschen vom Kindes- bis ins Seniorenalter kennen. Darunter sind Menschen mit schwerstmehrfacher Behinderung genauso wie Männer und Frauen mit psychischen Erkrankungen, die körperlich vielleicht total fit sind. Unsere Pferde sind keine Dressurpferde, die eine ganz klare Aufgabe haben und möglicherweise nur einen oder wenige Reiter.

S. Niemeier: Insgesamt sind es etwa 80 Menschen, die unser therapeutisches Reitangebot nutzen. Darunter sind viele Erwachsene. Das heißt, die Tiere müssen nicht nur psychisch stark sein, um sich auf die unterschiedlichen Reiterinnen und Reiter einzustellen, sondern auch muskulär mehr leisten. Dazu kommt der Umgang mit unseren Materialen: Ringe und Musiktrommeln für die motorische und kognitive Arbeit oder besondere Gurte oder Vorrichtungen, die manche Teilnehmenden benötigen, um sich auf dem Pferd zu halten.

Wie läuft eine therapeutische Reiteinheit ab?

S. Niemeier: Die Abläufe sind generell sehr strukturiert. Bevor die Teilnehmenden reiten, begrüßen und putzen sie erst einmal die Tiere. Das baut Nähe auf und bietet Struktur. Außerdem steigert es das Verantwortungsgefühl. Die Teilnehmenden verinnerlichen Regeln im Umgang mit den Pferden, lernen, worauf sie achten sollten. Die Tiere wiederum wissen, was sie erwartet. Das trägt zu ihrem Sicherheitsgefühl bei.

M. Rahmöller: Jede Reiteinheit ist aber anders. Manche möchten richtig Action und wollen am liebsten sofort drauflosreiten, anderen reicht das Gefühl, auf dem Pferd zu sitzen und die Bewegungen zu spüren. Und auch jedes Pferd ist anders. Wir kennen unsere Tiere und wissen, was jedes einzelne leisten kann und wann Pausen gebraucht werden.

Wie bilden Sie die Pferde aus, damit die Tiere sowohl physisch als auch psychisch belastbar sind?

S. Niemeier: Pferde sind Fluchttiere. Bei einem Anzeichen von Gefahr ergreifen sie die Flucht. Also müssen wir dafür sorgen, dass sie sich sicher fühlen. Das A und O ist deshalb, dass sie uns vertrauen. Die Tiere müssen wissen: Unser Wort gilt, und ihnen kann während der Einheiten nichts passieren. Auch wenn es mal lauter wird oder viel Trubel herrscht. Und wir kennen die Pferde gut genug, um zu wissen, bei welchen Stressauslösern welches Tier anschlägt, und können darauf sofort reagieren.

Spielen die Artgenossen eine Rolle bei der Eingewöhnung?

S. Niemeier: Oh ja! Unsere neun Pferde leben in einer Herde, in der jedes Tier seinen Platz in der Rangordnung hat. Das gibt zusätzliche Sicherheit. Während der Ausbildung ist es daher hilfreich, wenn ein älteres Pferd dabei ist, das als Leittier Orientierung bietet.

Brauchen die Pferde auch Urlaub, damit sie sich nicht „überarbeiten“?

S. Niemeier: Jedes Tier beteiligt sich grundsätzlich nur an einer Einheit pro Tag. Die Pferde haben klare Arbeitszeiten, wenn man so will, also auch Feierabend. Außerdem bietet unser Stallkonzept einen großen und wichtigen Ausgleichspunkt. Die Pferde leben in einem sogenannten Aktivstall, in dem sie sich frei an der frischen Luft bewegen und als Herde agieren können. Hier müssen sie sich bewegen, um ans Futter zu kommen und zu trinken. Reibereien werden innerhalb der Gruppe geklärt. Die Pferde können einfach nur Pferd sein, ohne dass sie von Menschen gestört werden.

M. Rahmöller: Durch das Stallkonzept haben die Tiere Abwechslung im Alltag. Wir wollen nicht, dass sie möglicherweise stoisch werden. Sie sollen wach und aufmerksam sein, und sie sollen ihr eigenes Wesen behalten. Das macht sich auch in der Therapie bezahlt. Verschiedene Menschen brauchen schließlich verschiedene Pferde.

Durchblick

Das Interview ist in der Ausgabe "Tierisch" des Magazins "Durchblick" erschienen. 

Weitere Informationen zu den Therapeutischen Angeboten des Wittekindshofes gibt es hier