Fünf Wochen Marina Raddatz blickt zurück auf den Corona-Ausbruch im Haus Wehmstraße in Bünde

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Marina Raddatz hat Tränen in den Augen. Auch ein halbes Jahr nach dem Infektionsgeschehen im Wohnhaus an der Wehmstraße in Bünde erinnert sie sich gut an die angespannte Situation: "Es ist wie eine Art Schockstarre, ein wirres Gefühlsdurcheinander, aber die konkreten Erinnerungen an Abläufe und die zeitliche Entwicklung sind verschwommen", versucht die Bereichsleitung zu beschreiben, wie es ihr und ihrem Team ging.

Anfang November 2020: Ein Bewohner weist coronatypische Symptome auf. Er wird isoliert und getestet. Positiv. Andere Hausbewohner und -bewohnerinnen entwickeln ebenfalls Symptome, ebenso Mitarbeitende. Die Zahl der positiven Fälle steigt weiter. Das Haus wird unter Quarantäne gestellt. Mitarbeitende tragen volle Schutzmontur im Dienst: Kittel, FFP2-Maske, Schutzbrille, Handschuhe. Sie dürfen nur nach Hause und zur Arbeit fahren. Nicht einkaufen, nicht tanken, keinen Kontakt zu anderen Menschen oder ihren Familien haben. Arbeitsquarantäne. Der Alltag im Wohnhaus verändert sich komplett.

"Menschenleben retten"

"Von jetzt auf gleich war alles anders. Eigentlich haben wir ein offenes Hauskonzept. Zwar gibt es Wohngruppen mit gemeinsamen Aufenthaltsräumen, aber alle bewegen sich frei im Gebäude. Das ging so dann nicht mehr", berichtet Raddatz, die selbst infiziert war. Das Haus wurde streng in Wohngruppen aufgeteilt, denen feste Mitarbeitende zugeteilt wurden.

Die Teams splitteten sich noch einmal auf, um Früh-, Spät- und Nachtschicht zu ermöglichen und somit die 24-Stunden-Unterstützung für die Frauen und Männer mit Behinderung zu gewährleisten. Dies gelang nur durch Unterstützung weiterer Mitarbeitenden, etwa der Tagesstrukturierenden Angebote. Es galt, die Infektionsketten und die Zahl der Kontaktpersonen ersten Grades so gering wie möglich zu halten – "schlussendlich wollten wir Menschenleben retten", so Raddatz.

Team agiert als Einheit

"Es war rührend", erinnert sich die Bereichsleiterin. "Das Team hat an einem Strang gezogen. Die Kollegen und Kolleginnen haben sich teilweise völlig vergessen und waren selbstlos im Einsatz für unsere Leute. Jeder hat alles gegeben. Ich kann das nicht genug loben. Es war ein tolles Gefühl zu sehen, wie wir als Einheit funktioniert haben. Wir sind ein multiprofessionelles Team mit ganz unterschiedlichen Charakteren. Da kann nicht jeder mit jedem gleich gut. Aber davon war nichts zu spüren. Ich bin meinem Team so dankbar für die herzliche und diakonische Arbeit", sagt Marina Raddatz.

Die veränderte Arbeitssituation, die Erkrankungen, die glücklicherweise alle milde verliefen, belasteten trotzdem psychisch. Hinzu kam die physische Anstrengung. "Die Arbeit in voller Schutzkleidung ist einfach hart. 20 Minuten haben wir vor Dienstbeginn benötigt, um uns zu desinfizieren und umzuziehen. Das Atmen fällt schwerer, die Brille schränkt das Sehfeld ein, die Kommunikation mit den Klienten und Klientinnen ist schwieriger", versucht Raddatz zu erklären. Nachempfinden könne man das wahrscheinlich nur, wenn man selbst diese Situation durchlebt habe.

Hinzu kamen ständig neue Dinge, die mit Behörden und Ämtern abgestimmt werden mussten, neue Anweisungen und Auflagen. Und der Organisationsaufwand.

Unterstützung von allen Seiten

"Wir haben Möbel gerückt und Räume anders ausgestattet, um neue Aufenthaltsräume zu schaffen für die einzelnen Isolationsgruppen. Alle Wohngruppen sollten schließlich die gleichen Bedingungen haben. Wir mussten die Essenslieferung neu planen, die Mittagsverpflegung, die sonst in der Werkstatt stattfindet, bedenken. Die Wäsche musste besonders verstaut werden, in Säcken, die länger bei uns im Haus bleiben mussten, um die Übertragung des Virus zu verhindern. Da wurde an manchen Stellen die Wäsche knapp", erinnert sich die Bereichsleitung.

Aber natürlich musste auch der Alltag für die Bewohnerinnen und Bewohner abwechslungsreich und kreativ gestaltet werden: "Eine Kollegin, die im Ruhestand ist, hat uns ehrenamtlich geholfen. Wir haben Listen mit Wünschen erstellt und sie war für uns einkaufen. Ein toller Einsatz." Auch Angehörige hätten sich maximal engagiert: "Sie haben uns gut zugesprochen, Bastelmaterialien, Nervennahrung wie Kuchen und Schokolade und Kleidung für ihre Angehörigen gebracht. Alles, was von außen möglich war."

Auch das Geschäftsbereich-Leitungsteam habe vollste Unterstützung gegeben. Essensgutscheine geschickt, Pizza bestellt und, wo möglich, die Kommunikation mit dem Ge- sundheitsamt abgenommen. Kollegen und Kolleginnen sowie die Mitarbeitenden der benachbarten Wittekindshofer Wohngemeinschaft am Nordring grillten für die Wehmstraße. Die Bratwürste wurden kontaktlos in einem Topf übergeben. "Das war ein Highlight", erinnert sich Marina Raddatz. "Und es war auch Balsam für die Seele."

Pädagogische Arbeit und Ausgleich

Spaziergänge ums Haus, frische Luft schnappen im Garten oder auf dem Balkon, Spiele spielen, Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen: "Wir mussten ja Ausgleich zur Isolation für unsere Klienten ermöglichen. Die haben das so toll mitgemacht. Sicherlich kamen immer wieder Fragen auf wie: 'Was ist Corona? Warum sehe ich das nicht? Warum darf ich nicht raus? Wann darf ich einkaufen gehen?' Wir Mitarbeitenden waren auf der einen Seite erschöpft, wollten und mussten auf der anderen Seite aber die Bewohnerinnen und Bewohner zu Aktionen und Bewegung motivieren, ihnen optimale Unterstützung und vor allem auch Sicherheit geben. Alles in allem haben wir mit viel pädagogischer Arbeit die gute Laune im Haus aufrechterhalten können", resümiert die gelernte Erzieherin.

Fünf Wochen Quarantäne. Fünf Wochen arbeiten unter extremsten Bedingungen. Am Ende hat es sich ausgezahlt. Alle Infizierten sind genesen. Es gab keine weiteren Infektionen. Keine bekannten Folgeschäden. Was bleibt ist ein mulmiges Gefühl bei der Erinnerung an diese einschneidenden Wochen.